„Du stellst meine Füße auf weiten Raum.“
(Ps 31,9)

„Alle Menschen haben Zugang zu Gott, aber jeder einen anderen.“
(Martin Buber)

Religion für junge Menschen

Das eigene Leben deuten lernen

Die Welt ist und bleibt ein Geheimnis. Seit Jahrtausenden haben Menschen versucht, die Herkunft der Welt, die Bedeutung des eigenen Lebens und vor allem auch des Todes zu entschlüsseln. Es gehört nun mal zum Menschen dazu, „mehr als alles“ zu denken, sich der eigenen Situation bewusst zu werden und Antworten auf die vielen Fragen des eigenen Lebens zu suchen.

 

Durch die Menschheitsgeschichte geht ein großer Strom von religiösen Fragen und Sehnsüchten. An den verschiedenen Orten der Erde und in den unterschiedlichen Kulturen haben sich religiöse Wege herauskristallisiert, auf denen Menschen ihre Suche nach Gott ausdrücken, feiern und gestalten. Die Weltreligionen sind Suchprozesse der Menschheit hin zu ihren Geheimnissen und zum Geheimnis Gott.
Aber auch Menschen, die nicht an Gott glauben, glauben an etwas. Möglicherweise glauben sie, dass es Gott nicht gibt, dass die Erde durch Zufall entstanden ist und dass sie selbst ein Zufallstreffer der Evolution sind. Damit glauben sie aber auch an etwas, was sie letztlich nicht „beweisen“ können. Auch ich kann nicht „beweisen“, dass es Gott gibt. Wenn man ihn „beweisen“ könnte, dann wäre es auch nicht mehr Gott. Dann würde er sich ja menschlichen Beweisstrategien unterordnen. In diesem Sinne lasse ich mich mit bestem Gewissen auf die weiteste Deutung der Wirklichkeit ein. Die weitestreichende Deutung der Wirklichkeit ist der Gottesglaube. Er durchkreuzt sämtliche innerweltlichen Möglichkeiten. Er durchkreuzt auch das Schubladen-Denken dieser Welt, das von Menschen produziert ist und das – wie wir immer mehr merken – auch vielfältige Grenzen und Zusammenbrüche beinhaltet. Die Perspektive, von Gott radikal geliebt zu sein, auf ihn hinzugehen und zu ihm zu gehören, also im Be-Reich Gottes zu leben, das hat Jesus von Nazaret verkündet, wenn er sagt: Das Reich Gottes ist unter euch, das Reich Gottes ist da.

Die Kinder leben ihre Religiosität sehr individuell. Sie suchen ihren eigenen religiösen Weg. Sie suchen ihre eigene Wahrheit. Gesellschaftlich gibt es viele Wahrheiten, und Kinder und Jugendliche sind heute umso mehr herausgefordert – und zum Teil auch überfordert – zu erkennen, welche Wahrheit gültig ist […] Dem Kind darf nicht die Gestaltungsfreiheit gegenüber vorgegebenen Vorstellungen genommen werden. Manche religiösen Gruppierungen vertreten streng geschlossene Systeme. Das andere Extrem aber wäre, dem Kind gar keine helfenden Vorgaben für seinen Weg mitzugeben und von ihm zu verlangen, seinen Weg allein zu suchen und sich seine Normen selbst zu geben.

Kinder haben ein Recht auf religiöse Erziehung. Wenn es im deutschsprachigen Raum so weitergeht, dass Eltern im Blick auf ihre Kinder alles Mögliche wichtig ist, nur die religiösen Fragen ihrer Kinder nicht, und sie daher Religion völlig ausklammern, bereiten sie ihre Kinder letztlich nicht kompetent auf das Leben und Sterben vor […] Ich schweige ja auch mein Kind nicht zehn Jahre lang an, nur weil ich ihm die Möglichkeit eröffnen möchte, später Englisch oder Chinesisch zu lernen. Zunächst braucht es eine Grundbefähigung zu Sprache und Kommunikation […] Kinder brauchen religiöse Sprachkompetenz, religiöse Ausdrucksfähigkeit und eine religiöse Grammatik, die es ihnen ermöglicht, religiöse Denkvorstellungen zu verstehen, zu kritisieren, sie möglicherweise auch hinter sich zu lassen und sich davon zu distanzieren.

Für den lebenslangen, insbesondere aber für den kindlichen und jugendlichen Entwicklungsprozess ist der alltägliche, kreative Umgang mit Deutungen, auch mit religiösen Deutungen, sehr wichtig. Kinder und Jugendliche sollen nicht – durch welche Machtmittel auch immer – gezwungen werden, sich religiösen Deutungen anzupassen und sie lediglich formelhaft zu übernehmen. Vielmehr müsste der Sozialisationsprozess originelle, selbst mitgeschaffenen, also existenziell erlebbare Bedeutungszugänge ermöglichen. Insbesondere Kindern und Jugendlichen muss zugestanden werden, mit religiösen Bedeutungen „zu operieren“ […]  Auch wenn Kinder ihre religiösen Vorstellungen eigenständig entwickeln, brauchen sie die Unterstützung durch Erwachsene, die ihnen als Dialogpartner wie in anderen Bereichen auch Klärungen und Weiterentwicklungen ermöglichen. So wird verhindert, dass sie mit ihren Vorstellungen steckenbleiben.

Wichtig ist, ihnen Raum zu geben, damit sie entsprechende Erfahrungen machen können. Auch Kinder glauben nicht alleine […] Wenn viele Menschen angerührt sind von einer Idee, einem Erleben oder einem Vorhaben, so auch, wenn Menschen angerührt sind und sich angesprochen fühlen von der Botschaft und Person Jesu und sich auf ihn einlassen, dann entwickelt sich eine Glaubensgemeinschaft Gleichgesinnter, und in dieser Gemeinschaft entwickeln sich Traditionen und Symbole. Diese können hilfreich sein, wenn sie kritisch durchdrungen und angeeignet werden. Denn Religiosität drückt sich in jedem Menschen  anders aus. Sie will sich verleiblichen in konkreten Symbolen und Handlungen. 

Religiöse Erziehung entspricht der Offenheit und Gestaltungsbedürftigkeit des menschlichen Lebens. Wir Menschen brauchen Deutungsmuster, um positive und negative Erlebnisse beurteilen und verarbeiten zu können. Ob wir wollen oder nicht: Kinder werden sich immer eine Weltdeutung zusammenbasteln; umso wichtiger ist es, in diesen Prozess der Weltdeutung positive Gedanken und Symbole einzubringen statt Angst, Konsum, Rivalitätsvorstellungen und Verabsolutierungen, die immer dem Stärkeren das Recht zusprechen. Gerechtigkeit, Friede und Ehrfurcht vor der Schöpfung sind Deutungen der Bibel, die für das Überleben der Menschheit größte Bedeutung haben […]

Es geht nicht um eine Vorfeldrekrutierung der Kinder für ein späteres kirchliches Engagement oder gar um Glaubensindoktrination – im Gegenteil: Die Freiheit des Einzelnen bleibt der zentrale Angelpunkt […] Niemand muss daran glauben, von Gott herzukommen und zu Gott hinzugehen. Niemand muss daran glauben, dass Gott es gut mit jedem Menschen meint. Das darf ich glauben […] Wenn ich das Leben in dem großen Bogen der Gottesbeziehung interpretieren darf und kann, dann gewinne ich eine enorme Weite für meine Existenz, weil ich dann weiß: Die Jahre, die ich hier leben kann, sind schon ein Teil der Ewigkeit […] ich bin im großen Bundesbogen, in der Beziehung mit Gott, und bleibe in dieser Beziehung, auch wenn dieser Körper eines Tages seine Dienste versagt – und eines Tages wird mein Körper sterben müssen. Und dann kann ich die Arme auf Gott hin ausstrecken und muss vor Gott keine Angst haben. Wenn es dunkel wird in meinem Leben, wenn ich vor offenen Gräbern stehe: Natürlich bin ich dann traurig, enttäuscht, verzagt und ängstlich. Aber Gott haut nicht ab, wenn es dunkel wird im Leben. Gott verlässt uns nicht! Wenn Gottes Sohn am Kreuz stirbt, dann signalisiert das: Im Leid dieser Welt bin ich, Gott, da, auch wenn eure Augen das nicht sehen können […]

Wenn religiöse Erziehung als sinnstiftende Erschließung und Realisierung der Beziehung mit Gott verstanden wird, ist sie gerade nicht Einschränkung, sondern im Gegenteil Bewusstseinserweiterung und Intensivierung der persönlichen Lebensqualität.

(in Anlehnung an: Biesinger, A., Kinder nicht um Gott betrügen, Freiburg: Herder 172019)